20.05.2020 | Forschung | Dozierende

Hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende: Weicheier oder Wunderkinder?

Hochsensibilität (bzw. Neurosensitivität) wird in den Medien seit einigen Jahren vermehrt diskutiert. Einerseits werden Hochsensible als hochempfindlich, wenig belastbar und hochemotional beschrieben, wodurch diese im Extremfall als eine Art Weicheier dargestellt werden. Anderseits werden Hochsensible auch als hochkreativ, sehr empathisch und hochintuitiv beschrieben, wodurch diese im Extremfall als eine Art Wunderkinder dargestellt werden. Doch wie sind hochsensible bzw. hochneurosensitive Mitarbeitende nun wirklich? Hier erfahren Sie mehr.

Mai 2020

Text von Patrice Wyrsch

Patrice Wyrsch forscht seit Sommer 2016 als weltweit erster BWL-Doktorand dieses neuartige, psychologische Konstrukt der Hochsensibilität. Er doktoriert am Institut für Organisation und Personal der Universität Bern, Abteilung Personal. Seine beiden Betreuenden, Prof. Dr. Julia de Groote und Prof. Dr. Andreas Hack, und er haben zum baldigen Abschluss seines Doktorats die wichtigsten Forschungsergebnisse in einem Arbeitsbericht veröffentlicht (https://dx.doi.org/10.7892/boris.141844). Dabei stellen sie die etwas provokative Frage, ob hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende denn nun Weicheier oder Wunderkinder sind.

Hochsensibilität bzw. Neurosensitivität – Was ist das überhaupt?

Neurosensitivität ist ein fundamentales Persönlichkeitsmerkmal, welches auf der Sensitivität des zentralen Nervensystems basiert. Definiert wird Neurosensitivität als eine Art Wahrnehmungsfähigkeit; nämlich als die Fähigkeit, Umgebungsreize zu registrieren und zu verarbeiten. Dabei verfügen sogenannt hoch(neuro)sensitive Personen über eine erhöhte Neurosensitivität. Einerseits belegen bisherige Studien, dass hochsensitive Personen empathischer und kreativer sind. Anderseits zeigen weitere Studien, dass hochsensitive Personen Stress- und Burnout-gefährdeter sind.

Innovation, Prosozialität & Performance – Erkenntnisse der ersten Datenerhebung

In unserer ersten Datenerhebung wurden 322 deutsche Erwerbstätige per Selbsteinschätzung nach ihrem Innovationsverhalten, prosozialem Arbeitsverhalten und ihrer Aufgabenleistung befragt. Dabei zeigt sich ein relativ deutliches Muster: Wenn die Sonnenseite erhöhter Neurosensitivität (sog. Vantage-Sensitivität) überwiegt, werden erhöhte Leistungen gezeigt. Wenn die Schattenseite erhöhter Neurosensitivität (sog. Vulnerable Sensitivität) überwiegt, werden verringerte Leistungen gezeigt. Wenn hingegen vulnerabel-hochsensitive Mitarbeitenden förderliche Arbeitsbedingungen (wie z.B. wenig Lärm und passende Raumtemperaturen) vorfinden, zeigen sie sogar eine leicht höhere Aufgabenleistung als wenigsensitive Mitarbeitende.

Symbolbild Empathie
Empathie

Führung & Performance – Erkenntnisse der zweiten Datenerhebung

In einer zweiten Datenerhebung durch Prof. Dr. Maike Andresen von der Universität Bamberg wurden 217 Duos von Mitarbeitenden und ihren jeweiligen Führungskräften befragt. Der entscheidende Vorteil der zweiten Datenerhebung ist, dass die Aufgabenleistung der Mitarbeitenden nicht wie in der ersten Datenerhebung selbsteingeschätzt, sondern von den jeweiligen Führungskräften fremdeingeschätzt wurde. Bemerkenswerterweise zeigen die Ergebnisse dabei ein sehr ähnliches Muster wie in der ersten Datenerhebung auf. Die Ergebnisse unserer gemeinsamen Analysen belegen: Wenn die Sonnenseite erhöhter Neurosensitivität und somit Vantage-Sensitivität überwiegt, wird eine erhöhte Aufgabenleistung gezeigt. Wenn die Schattenseite erhöhter Neurosensitivität und somit Vulnerable Sensitivität überwiegt, wird eine verringerte Arbeitsleistung gezeigt. Die höchste Aufgabenleistung weisen dabei Dyaden/Duos von vantage-hochsensitiven Mitarbeitenden und vantage-hochsensitiven Führungskräften auf. Während die erhöhte Aufgabenleistung von vantage-hochsensitiven Mitarbeitenden von vulnerabel-hochsensitiven Führungskräften verringert wird, wird die verringerte Aufgabenleistung von vulnerabel-hochsensitiven Mitarbeitenden von vantage-hochsensitiven Führungskräften erhöht. In einer letzten Analyse können wir schliesslich zeigen, dass Vantage-Sensitivität mit erhöhter Führungsqualität von Führungskräften und Vulnerable Sensitivität mit verringerter Führungsqualität von Führungskräften einhergehen.

Fazit – Weicheier oder Wunderkinder?

Basierend auf unseren empirischen Ergebnissen ist die Antwort auf unsere etwas provokative Leitfrage, ob hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende Weicheier oder Wunderkinder sind, «weder noch». Denn unsere Ergebnisse zeigen auf, dass auch vulnerabel-hochsensitive Mitarbeitende, bei denen die Schattenseite von erhöhter Neurosensitivität überwiegt, mit den passenden Kontextbedingungen sehr wohl leistungsfähig sind. Sind beispielsweise die Arbeitsbedingungen von vulnerabel-hochsensitiven Mitarbeitenden förderlich, fällt ihre Aufgabenleistung im Vergleich zu wenigsensitiven Mitarbeitenden sogar leicht erhöht aus. Gleichzeitig sind hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende auch keine Wunderkinder. Denn obschon vantage-hochsensitive Mitarbeitende, bei denen die Sonnenseite von erhöhter Neurosensitivität überwiegt, höhere unternehmensrelevante Leistungen (wie Innovationsverhalten, prosoziales Arbeitsverhalten und Aufgabenleistung) relativ unabhängig von Kontextbedingungen zeigen, sind unsere empirischen Ergebnisse weit davon entfernt, dass vantage-hochsensitive Mitarbeitende als Wunderkinder angesehen werden können. Zumal eine solch überhöhte Erwartungshaltung wohl gar nicht erst förderlich wäre – weder für das Individuum noch für die Organisation.

Möchten Sie erfahren, welcher Sensitivitätstyp Sie sind?

Patrice Wyrsch bietet unter www.patricewyrsch.ch einen Kurztest an, mit dem Sie mittels acht wissenschaftlichen Fragen erfahren, welcher Sensitivitätstyp am ehesten auf Sie zutrifft (z.B. eher Vulnerable Sensitivität oder Vantage-Sensitivität?).